Der Osterspaziergang

Lübeck, im Dezember 2019.

In meiner Familie muss jeder deutsche Gedichte lernen. Jeden Abend zehn Minuten, beim Schlafengehen. Traditionsgedichte wie: Die Bürgschaft und Der Ring des Polykrates von Schiller, Belsazar von Heinrich Heine, Ribbecks Birnbaum und John Maynard von Fontane, Nis Randers von Otto Ernst. Die schlauen Deutschlehrer glauben, das sei Zeitverschwendung, aber für die Ausbildung des Sprachverständnisses und die Erweiterung des Wortschatzes ist es sehr nützlich. Außerdem sind die Gedichte schön. Und lehrreich! 

Einen interessanten Text findet man auch in Goethes Osterspaziergang aus Faust 1. Ein Pamphlet für die Befreiung des Menschen. Der Dichter verheißt uns mit der Frühlingssonne die Freiheit als höchstes Lebensziel (ein Motto, das auch die Ideologen und Totengräber des freien Geistes in der DDR ausgegeben hatten: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!). Auf die Befreiung des Menschen kommt Goethe im zweiten Teil des Faust-Dramas zurück, als ihm die Erkenntnis zuteil wird, für die er dem Teufel Blut gespendet hat: „Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“. Und: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, Du bist so schön!“

Die Enge der Stadt bringt der Dichter in genialer Weise zum Ausdruck: „aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, aus Handwerks- und Gewerbesbanden, aus dem Druck von Giebeln und Dächern“ … und jetzt kommts: „aus der Straßen quetschender Enge“. Das ist die einzige Zeile im ganzen Gedicht, die keinen Reimpartner findet – dadurch wird der Platzmangel rhetorisch noch überhöht, diese Zeile musste noch rein, wie ein Keil, mit dem Hammer eingeschlagen!

Zuviel sind wir Beschränkungen unterworfen, das sind die „Handwerks- und Gewerbesbanden“ – die oft sinnlosen überbordenden Regularien der (städtischen) Behörden. Dem Dichter war die Bürokratie genauso zuwider wie den meisten von uns. Diese Zeile macht mir jetzt am ganzen Gedicht den größten Spaß. Ohne Bauamt, Ordnungsamt und viele sonstige Ämter darf der Mensch Mensch sein!

Daneben steht noch die ehrwürdige Nacht der Kirche!!! Ehrwürdig? Ein schlaues Ablenkungsmanöver, damit Goethes Werke nicht allesamt verboten wurden. Das Attribut ist eine geniale Ironie und kritisiert die Fesseln und Gaukeleien des Christentums. Lasst die Religion hinter Euch und werdet frei!

Der Dichter hat auch bei Prometheus seinen Atheismus nur versteckt zum Ausdruck gebracht, indem er die griechischen Götter verklagt und nicht den bei uns dominierenden Klerus, der uns die Augen verbindet, dass es dunkel werde und wir uns schön fügen. Aber die Sonne duldet auch keine Lügen, sie bringt uns die Freiheit. Und Prometheus brachte uns Erkenntnis (Licht).

Lasst uns die Freiheit verteidigen, die wir gewonnen haben! Lasst sie uns nicht von Traumtänzern („wir schaffen das“), Schwätzern („wir nennen es Garantiesicherung“ oder „Liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Studierende oder Arbeitende“), von Ideologen, der Kirche, Hegemonialmächten, unfairen Ehegatten und gierigen Arbeitgebern kaputtmachen!

Prof. Dr. Winfried Stöcker, Arzt in Lübeck

 

2 Kommentare zu “Der Osterspaziergang

  1. Herr Prof.Dr.Stöcker ist und bleibt ein Fels in der rot/grünen
    Brandung. Ich bin dankbar, dass es so eine Persönlichkeit
    gibt!
    Wenn ich ihm in irgendeiner Art und Weise helfen könnte,
    Ich würde es sofort tun! Eine solcher Mensch verdient jede
    Unterstützung!

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